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Mein Nachruf auf Aviva Ronnefeld
Das deutsche Wort „Nachruf“ existiert in meiner Muttersprache nicht. Auf Hebräisch gibt es „Grabrede“ und „Traueranzeige“ – „Nachruf“ lässt sich aber nicht adäquat übersetzen. Was bedeutet es, einer geliebten Person nachzurufen? Geht es darum, die Biografie einer verstorbenen Person in der Öffentlichkeit zu würdigen, oder geht es darum, ihr wortwörtlich nachzurufen und vergeblich zu versuchen, sie nach ihrem Abgang verbal und laut wieder zu erreichen?
Meine gute Freundin, die Künstlerin Aviva Ronnefeld, starb viel zu früh im Alter von 66 Jahren an einem schönen Sommertag im August. Vor einem Jahr erhielt sie die Diagnose Glioblastom. Als ich auf Wikipedia recherchierte, was das genau bedeutet, musste ich mit Erschrecken feststellen: Hirntumor, bei dem die Überlebenszeit bei wenigen Monaten bis zu einem Jahr liege. „Aviva“, habe ich sofort zu ihr gesagt, „du darfst nicht vor April sterben – Pessach sollen wir noch zusammen feiern!“
Auch, wenn wir es nicht wahrhaben wollten, wussten wir alle, die Aviva liebten, dass die Zeit mit ihr knapp ist. Von nun an galt es, ihr schöne Momente zu schenken, an die wir uns später selbst erinnern können, und alles von ihr festzuhalten, was noch festzuhalten war.
Noam Brusilovsky / Theater der Zeit
1.11.24
Heimat Waerniki
Mir fließen die Tränen, während ich am Gate auf meinen Rückflug von Buenos Aires nach Frankfurt warte. Diese Szene kommt mir bekannt vor. Ich kenne sie schon aus meiner Kindheit: Meine Mutter weint am selben Flughafen, nachdem wir uns von der Familie verabschiedet haben, wissend, dass ein paar Jahre vergehen werden, bis wir uns alle wiedersehen werden. Ich sitze neben ihr und kann zwischen ihrem und meinem Trennungsschmerz gar nicht unterscheiden – ich bin mit der Sehnsucht nach einem Ort aufgewachsen, in dem ich nie gelebt habe. Vom Kinderbett im israelischen Haifa aus nahm mich meine Mutter mit ihren Gute-Nacht-Geschichten mit auf eine Reise in ihre magische Heimatstadt, die am Fuße der Anden liegt. Im jüdischen Friedhof von Mendoza liegen viele Tote und jede Nacht werden sie in den Geschichten meiner Mutter aufgezählt. Bis heute kenne ich jede einzelne Geschichte und alle Namen auswendig.
Noam Brusilovsky / Theater der Zeit
1.6.24
FAUST (HAB’ ICH NIE GELESEN): ÜBER MEIN MÜHSAMES DEUTSCHWERDEN
»Was inszenierst du als Nächstes?«, fragt mich eine befreundete Kollegin und lacht mich aus, als ich ihr erzähle, dass ich eine Hörspielinszenierung des »Faust« vorbereite. »Jetzt, wo du deutsch geworden bist, darfst du es tun«, meint sie augenzwinkernd.
Nach zehn Jahren Aufenthalt in Deutschland erhielt ich im vergange- nen Jahr die deutsche Staatsbürgerschaft. Seit dem Jahr 2020 müssen Israelis, die sich in Deutschland einbürgern lassen, nicht mehr auf die israelische Staatsbürgerschaft verzichten. Dieses Wiedergutma- chungsprivileg ermöglicht es mir, eine offene Beziehung mit dem deutschen Staat zu führen. Für mich das Richtige, da ich mich bisher nicht vollständig deutsch fühle.
Wem gehört der »Faust«, und wer darf ihn inszenieren? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt meines neuen Hörspiels »Faust (hab’ ich nie gelesen)«. Ich habe ihn tatsächlich nicht gelesen und werde es bis zur Sendung auch nicht tun. Denn in dieser Arbeit beschäftige ich mich mit dem Nichtlesen dieses identitätsstiftenden Werks. Obwohl ich ständig versuche, mich dagegen zu wehren, scheint das Deutschwer- den nach so vielen Jahren hier ein unvermeidbarer, schleichender Prozess zu sein. Ich bin mir nicht sicher, ob ich darauf vorbereitet bin und habe deshalb Angst, dass die Lektüre des »Faust« diesen Prozess nur beschleunigen wird.
Noam Brusilovsky / SWR2-Magazin
1.11.22
WIR SCHWULE SIND EUCH EGAL: BERLIN VERSAGT IM UMGANG MIT DEN AFFENPOCKEN
Ich höre von Bekannten, die Impftermine in Bayern und in Niedersachsen vereinbaren lassen, weil sie fürchten, die Affenpocken würden sie auch bald selbst erwischen und weil sie nicht davon ausgehen, dass sie den Impfstoff an ihrem Wohnort Berlin schnell bekommen. Andere Freunde melden sich panisch bei mehreren Impfstellen und warten stundenlang verzweifelt in der Leitung. Wir sind unruhig und ungeduldig. Wir wollen immun sein. Die Immunität, die wir uns wünschen, ist allerdings nicht nur gegen die Affenpocken, sondern auch gegen den grundsätzlichen Gedanken, dass Sex zwischen zwei Männern krankhaft sei – eine Idee, die uns viel zu lange vorgehalten wurde und mit der wir in unseren Köpfen immer noch zu kämpfen haben.
Noam Brusilovsky / Berliner Zeitung
18.7.22
"DEUTSCH" KANN UND WILL ICH NICHT SEIN
Frau Kilter aus der Staatsangehörigkeitsbehörde Friedrichshain-Kreuzberg freut sich, mir mitzuteilen, dass die Senatsverwaltung für Inneres positiv über meinen Einbürgerungsantrag entschieden hat. Die Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft findet in einer Woche im Bezirksamt statt. „Sehr geehrte Frau Kilter“, schreibe ich ihr zurück und meine Autocorrect-Funktion korrigiert mich und nennt sie „Frau Killer“, „herzlich gratuliere ich der Staatsangehörigkeitsbehörde und der Senatsverwaltung für Inneres für diese wunderbare Entscheidung. Ich werde Sie nicht enttäuschen – ich verspreche, ein vorbildlicher Bürger zu sein.“
Noam Brusilovsky / Berliner Zeitung
11.11.21